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Am Beispiel des größten Flusses der südlichen Hälfte von Xinjiang, des 2.17~ km langen Tarim,
lässt sich die Wechselwirkung der Gesellschaft und dei natürlichen Verhältnisse gut erkennen. Der aus
europäischer Sicht zuerst vor dem Schweden Sven Hedin vor rund neun Jahrzehnten zuerst erforschte
Fluss hat seinen Namen von einem alttürkischen Wort, das Landwirtschaft, Anbau, Ackerbau bedeutet. Den Namen dürften die
Uiguren, die um 550 als erster türkischer Volksstamm dorthin eingewandert sind, dem
Fluss gegeben haben. Sie haben dort eine schon lange vorher entwickelte Oasenkultur vorgefunden, von der viele schriftliche Quellen und
andere Belege erhalten sind. Die Spatenforschung der vergangenen acht Jahrzehnte hat aus dem Sand der Wüste Taklamakan, an deren Rand der Tarim fließt, uralte Kulturstätten ans Licht geholt. Das fruchtbarste Gebiet hat
sicher am Oberlauf des Wüstenstroms gelegen, im Dreieck zwischen den Oasen Kaschgar und Jarkand sowie den beiden Flüssen, die den Namen dieser Oasen tragen. Der Kaschgar-darja (das Wort darja bedeutet
Fluss) erreicht den
Tarim seit vielen Jahren nicht mehr. Der Ackerbau in der Kaschgar-Oase hat ihm immer mehr Wasser entzogen. Doch erst in den Jahren der Volksrepublik ist er trockengefallen. Dieses Schicksal hat ein anderer einst
mächtiger Nebenfluss bereits in der Tang-Zeit erlitten, als in Westeuropa Karl der Große und in Bagdad Harun al-Raschid herrschten. Der Khotan-darja fiel als trockener Arm vom Tarim ab, weil die Landwirtschaft in der
Khotan-Oase am Fuß der Berge ihm zu viel Wasser entzog. Gerade bis zur Oase Mazardagh (»Moscheenberg«; ein späterer Name) reichte der ständige
Fluss noch, sie musste später ebenfalls aufgegeben werden. Die Städte und
Märkte von Khotan, Karakasch, Düschanbebasar (»Montagsmarkt«) tranken ihr die Existenzgrundlage aus. Aber der größte Strom von Xinjiang führte immer noch genug Wasser, um einen Binnensee von beträchtlicher Fläche und
geringer Tiefe zu füllen, den Lop Nor. Der war noch 1959 über fünfzig Kilometer breit und hundert Kilometer lang, aber kaum tiefer als ein paar Fuß. Chinesische Forscher taten es damals Hedin nach, ruderten weit hinaus
und fingen Fische. Aber seit 1975 gibt es diesen See nicht mehr. Er ist ebenso ausgetrocknet wie der
Manas-Endsee nördlich von Shihezi und Kuytun in der dsungarischen Ebene. Es handelt sich in beiden Fällen, nicht den
einzigen, um ökologische Katastrophen, verursacht von menschlicher Tätigkeit. Deren Entstehen kann man in Zahlen belegen. Zur Zeit der chinesischen
Tang-Kaiser wurden im Einzugsgebiet des Tarim ungefähr sechs
Millionen mu künstlich bewässert aus den Nebenflüssen, vor allem aus dem Khotandarja. Zur Zeit des schwedischen Asien-Forschers war die bewässerte Fläche um die Hälfte größer geworden — neun Millionen mu, und bis 1949
war es ungefähr dabei geblieben. Doch schon in jenen Jahrzehnten trocknete der
Fluss in seinem letzten Abschnitt, der damals von Nord nach Süd verlief (oft hat er in der ebenen, kaum Gefälle zeigenden Wüste seinen
Lauf verlegt), in der trockenen Jahreszeit immer wieder monatelang aus. Doch für 1980 meldet die chinesische Statistik eine bewässerte Fläche von 19,8 Millionen mu und nennt noch zwei weitere interessante Daten: Die
Weizenerzeugung an den Quell- und Nebenflüssen des Tarim hat sich seit 1949 um das Zweieinhalbfache erhöht und die Baumwollerzeugung gar um das Neunfache. Baumwolle braucht aber in der Vegetationsperiode acht- bis
neunmal Wasserzufuhr, und die kann es nur durch künstliche Bewässerung geben. Die Niederschläge erreichen niemals 100 mm und oftmals weniger als 50 mm im Jahr, die Verdunstungsrate aber bis zu 3.000 mm (das bedeutet: So
viel Wasser könnte die bis 550C aufgeheizte, von fast täglichen Stürmen rasch bewegte Luft aufnehmen; in einem Wasserbecken, aus dem nichts versickert und dem nichts zufließt, sinkt pro Jahr der Pegel um drei Meter).
Nun braucht aber schon in unseren Breiten der Weizen 450 bis 500 mm Regen jährlich. Baumwolle kommt zur Not auch mit 300 mm aus, zum Beispiel begnügen sich die qualitativ weniger wertvollen, in Innerasien traditionell
angebauten Gossypium herbaceum-Arten damit. Auch dieses Wasser
muss aber hergeführt werden, und zwar in der Vegetationsperiode — nach den Frösten, die jeden Winter über das Land hereinbrechen, in einer Zeit rasch
steigender Temperaturen und starker Verdunstung. An den Tarim-Nebenflüssen wird die Bewässerung durch offene Kanäle bewirkt; darin versickert die Hälfte oder mehr, und ein erheblicher Prozentsatz verdunstet auch.
Kaschgar, Khotan, Jarkand, die Oasen am Süd- und Westrand der Taklamakan-Wüste brauchen jeden Tropfen Wasser auf und verschwenden dennoch zwei Drittel. Es ist zudem die Nutzung der bewässerten Flächen verstärkt worden.
In der traditionellen Anbauweise lagen stets 30 bis 40% der Fläche brach, was der Erholung der Agrarfläche zugute kam, und die tatsächlich bebauten Einzelgrundstücke waren kleine Parzellen von 100 bis 400 m2, die unter
sorgfältiger Kontrolle Wasserzufuhr erhielten, so
dass die Verluste klein gehalten werden konnten. Die gegenwärtige Nutzung
lässt aber kaum 10% Brache zu, und die Bewässerung geht auf größeren Flächen (in Neulandzonen
sogar von 500 mal 1.000 m Ausdehnung) eher summarisch vor sich, ist also weniger effektiv. Und dem anderen bedeutenden Zweig der Xinjianger Landwirtschaft, der Tierproduktion, gingen durch den Ausbau der Agrarproduktion
3,4 Millionen ha schon bis 1965 verloren. Der Tarim wird indes hauptsächlich vom Norden her, vom Gebiet des Tomur (7435 m) im Tianshan und seinem Gletscher, mit Wasser versorgt. Gletscherwasser fließt immer dann
regelmäßig ab, wenn die Temperatur am Gletscherfuß über den Gefrierpunkt steigt; bei Frost wächst der Gletscher. Aber auch er kann nicht mehr abgeben, als er empfängt, in diesem Fall mit einiger
Gewissheit um die 200
mm im Jahr. Umgerechnet: Für die Bewässerung eines Quadratmeters Boden müssen die Regenfälle auf zwei Quadratmetern im Hochgebirge herhalten, und dann ist noch kein Tropfen verdunstet, Menschen und Tiere haben noch
nichts getrunken, die Industrie noch nichts verbraucht. Die Wassermenge begrenzt also die menschliche Nutzung, und sie ist gering. Die meerfernste Ebene der Erde, die Taklamakan, ist im Norden (Tianshan), Westen (Pamir)
und Süden (Kunlun) von Siebentausender-Hochgebirgsketten umgeben. Von Norden und Westen her dringen Regenwolken kaum jemals herüber, und die regenreichen Monsune aus Südasien überwinden kaum den Himalaya und erst recht
nicht die Hochwüste, die zwischen diesem und dem Kunlun sich dehnt, die Changtang-Ebene. Deshalb ist der Tarim bei seiner imposanten Länge doch ein kleiner
Fluss. Im Oberlauf schon, wo er den Aksu (»Weißwasser«,
der vom Tomur-Gletscher kommt) — seinen wasserreichsten
Nebenfluss — aufgenommen hat, führt er nicht mehr als 150 Kubikmeter pro Sekunde, ein Fünftel der Wassermenge, die die Elbe an Hamburg vorbei in die Nordsee bringt
oder die West-Mittelasiens Hauptströme, Syr-darja und Amu-darja, auf die sowjetische Seite des
Tianshan-Pamir-Systems schaffen. Umgerechnet bedeutet das wiederum: An seiner wasserreichsten Stelle bewegt der Tarim im Jahr
die Menge von höchstens fünf Kubikkilometern. Mehr Wasser gibt es nicht: Der Tarim ist der einzige Strom im südlichen Xinjiang. Die Mitte der achtziger Jahre vorgelegten Ausbaupläne lassen sich unter diesen
Voraussetzungen als ökologisch katastrophal bewerten. Pekinger Schätzungen zufolge sind nicht weniger als 130 Millionen mu (86.700 km2) für Ackerbau, Waldschutzstreifen und als Weidegebiet nutzbar; das ist das
Siebenfache der schon jetzt genutzten Agrarfläche, in der allerdings die Viehwirtschaftsgebiete nicht enthalten sind. Die von Schutzwaldstreifen benötigte Wassermenge allein ist nicht kalkulierbar; überdies ist der
einst reiche Bestand der den Tarim und seine Zu- und Nebenflüsse säumenden Galeriewälder
durch den Wassermangel bereits dezimiert worden. Zu Beginn des Jahrhunderts waren dies an die 60% des Baumbestandes der
gesamten Region; gegenwärtig bestehen zusammenhängende Waldflächen aber nur noch in den schmalen Hochgebirgszonen, die Baumwuchs tragen können. Das weitere Problem der Bodenversalzung scheint darüber hinaus nur
unzureichend durchdacht zu sein. Der Boden des Lop-Nor-Beckens ist über weite Strecken von dem aus Bergen und Wüsten stammenden, vom Tarim
herantransportierten Salz mit einer harten, nicht einmal mit dem
Vorschlaghammer zu zertrümmernden Kruste bedeckt. Die größeren Schwierigkeiten bietet indes die Versalzung der Anbaugebiete. Oberflächenwasser löst durch kapillare Aufsteigung Salze aus dem Boden, und das hohe
Verdunstungspotential bewirkt bei mangelndem Abfluss die Auskristallisierung und das Ausblühen einer Salzschicht. In Gebieten künstlicher Bewässerung in ariden Klimaten ist die Drainage, das Wegführen der das Salz
lösenden Wassermengen, eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Wasserzufuhr. In den klassischen
Oasen-Gebieten, etwa der Turfan-Senke und den Flussoasen am Gebirgsrand, reicht das natürliche Bodengefälle noch gut aus, die
gelösten Salze in die Flüsse und Endseen (im Falle Turfan: des Aydingkol) abzuführen. In der
Tarim-Ebene hingegen ist das Gefälle nahe null, so dass das Bewässerungswasser stehenbleibt und in der Ebene rasch verdunstet.
Das ganze Ausmaß der Versalzung sowohl am Tarim als auch in der Dsungarischen Ebene wird vom Flugzeug aus erkennbar; dort sind erhebliche Anteile des einmal urbar gemachten Bodens dauerhaft für jede land- und
viehwirtschaftliche Nutzung verdorben. Die Stationierung chinesischer Truppen und die von ihnen vorgenommenen landwirtschaftlichen Arbeiten haben dazu am meisten beigetragen. Die »Produktions- und Aufbaukorps«
(shengchang jianshe bin gtuan, im Deutschen abgekürzt: PAK) sind nicht allein für die — in der VBA traditionelle —Selbstversorgung der Truppen eingerichtet worden, sondern sollten von Anfang an eine mehrfache Aufgabe
wahrnehmen: »am Aufbau des Sozialismus mitwirken«, Produktionsarbeit leisten, militärische Kontrolle gewährleisten und die Bevölkerung politisch beeinflussen. Sie sind ursprünglich eingerichtet worden, um die
Guomindang-Armee des Generals Tao Shiyüe, die sich 1949 ergeben hatte, »durch Arbeit zu reformieren« und umzuerziehen, was auf lebenslange Ansiedlung in Xinjianger Militärkolonien hinauslief. ,l~o Shiyue wurde übrigens
— bis zur Kulturrevolution — mit dem Amt eines Vizekommandeurs des Militärbezirks Xinjiang belohnt. Die anfangs 100.000, im Laufe der achtziger Jahre bis 2.200.000 von ihnen organisierten »Pioniere« haben bis 1985
über 870.000 ha (13 Millionen mu) Land zu bearbeiten unternommen. Auch bei der Prospektion nach Bodenschätzen, dem Aus- und Aufbau von Bergwerken, Verkehrsverbindungen und Betrieben spielten sie seit 1950 eine
entscheidende Rolle. PAK-Kader haben zudem auch bei der Beratung und Organisation von Ansiedlungen zwangsverschickter Jugendlicher und der Bewachung von Zwangsarbeiterlagern mitgewirkt. Es bestanden um 1980 zehn
»landwirtschaftliche Divisionen« (in der amtlichen Reihenfolge mit den Kommandos in Aksu, Yanqi nahe Bagrasch, Kaschgar, Yining [Kuldschal, Bole ~Bortala1, Ürümqi, Kuytun, Shihezi, Hami und Altai) und drei
»Pionier-Aufbau-Divisionen« (in Ürümqi, Shihezi und Kaschgar). Allein am Tarim legten die PAK bis 1957 nicht weniger als 24 Staatsfarmen an, die auf den chinesischen Landkarten als chang (»Markt-« oder »Dreschplatz«,
z.B. Tarim Bachang: Achter Markt am Tarim; Shengli Shisanchang: 13. Markt im Shengli-Gebiet) verzeichnet sind. Diese Staatsfarmen liegen relativ nahe am Tarim und seinen Nebenflüssen im Gebiet früherer Grassteppen und
Galeriewälder, in wald- und busch-bestandenem, von trägen Wasserläufen und natürlichen Tarim-Seitenarmen durchzogenem Ödland, in dem nur wenige Fischer lebten; es war eine gelegentlich überschwemmte, dann wieder über
längere Perioden trockenfallende »Wildnis«. Das intakte ökologische System wurde von der extensiven Nutzung gekippt, und die Region versalzt nun rasch. Im Juni 1982 kam Wang Zhen, der bereits das erste PAK (1954 in
Aksu) aus demobilisierten Soldaten gegründet hatte, auf die Aufgaben der PAK noch einmal zurück und
umriss sie in fünf Punkten. Ein PAK solle 1. sowohl eine starke ökonomische Kraft als auch eine gut ausgebildete und
kampfstarke Reservetruppe zur Verteidigung von Xinjiang sein, 2. seinen wohlverdienten Ruf der harten Arbeit bei der Urbarmachung bisherigen Ödlands und bei der kulturellen Entwicklung Xinjiang wahren, 3. die Führung
der Autonomen Region und des für die Landwirtschaft zuständigen Ministeriums anerkennen; 4. die nationale Politik der KP verwirklichen und sich 5. mit den verschiedenen Nationalitäten der Region zusammenschließen.
Die politische Funktion der in den PAK organisierten Han-Chinesen war damit nochmals klar bezeichnet. Von ökologischen Gesichtspunkten hält sich die Aufgabenstellung peinlich fern. . |