Wenn die Fluten des Sommers zurückgehen, feiern die Kommunisten ihren Sieg über die Natur. Das ist seit Gründung der Volksrepublik vor 49 Jahren so. Doch noch nie wurde so gefeiert wie gestern in der Großen Halle des Volkes in Peking: Das gesamte Politbüro einschließlich seiner sechs ständigen Mitglieder hatte zur "Nationalen Konferenz zur Auswertung der Flutbekämpfung" geladen. Es war eine Veranstaltung, deren Tenor der alten maoistischen Propagandaschule entlockt zu sein schien. Vor dem Auftritt der Staatsführung sangen die Soldaten im Saal die angeblich spontan entstandenen Lieder von der Front gegen die Fluten.
Die "Jahrhundertflut" dieses Sommers rechtfertigte aus Sicht der Partei eine Grundsatzrede. Vor annäherend 5.000 Teilnehmern, die zum großen Teil an den Maßnahmen gegen die Flut beteiligt waren, sprach Partei- und Staatschef Jiang Zemin von den "heroischen Taten des Volkes, der Volksarmee und unserer Parteimitglieder und -kader, die den Annalen des Fortschritts der chinesischen Nation ein neues und leuchtendes Kapital hinzugefügt hätten". Nach den Live-Pressekonferenzen Jiangs und anderer KP- Führer in diesem Jahr war man dieses hölzerne Parteichinesisch gar nicht mehr gewohnt.
Doch beim Parteichinesisch mußte es bleiben: Noch immer sind die Opferzahlen der diesjährigen Flutkatastrophe, bei der nach offiziellen Angaben 14 Millionen Menschen ihr Obdach verloren, ein Staatsgeheimnis. Offiziell spricht man von bis zu 4.000 Toten. Doch dann wird beispielsweise aus der Provinz Henan berichtet, daß dort über 3.000 Waisenkinder, deren Eltern bei den Flut ums Leben kamen, ein neues Zuhause suchen.
Wie erfolgreich die chinesische Flutbekämpfung wirklich war, läßt sich aus westlicher Sicht nicht mit Sicherheit beurteilen. Immerhin gibt es Erfahrungswerte: "Die Hochwasserbekämpfungspolitik der Maoisten war alles in allem ein Erfolg", gesteht sogar der deutsche China-Forscher Oskar Weggel zu. Daran wollte Jiang gestern anschließen. Ziel seiner aufgeblähten Rede war es, die Handlungsfähigkeit seiner Regierung in einer Phase zu unterstreichen, in der nicht nur die Folgen der Fluten, sondern auch die Auswirkungen der Asienkrise die chinesischen Reformen gefährden.
Kaum ein westlicher Beobachter wagt derzeit, über die seit dem 15. Parteitag der KPCh vor einem Jahr eingeleiteten Reformen im Bereich der Staatsindustrie und der Regierungsstruktur ein abschließendes Urteil zu fällen. Zuviel ist durch die Asienkrise in Bewegung geraten, um beispielsweise die heutige Situation der großen, zu privatisierenden Staatsbetriebe genau einschätzen zu können. Zwar nehmen viele die rasant steigende Arbeitslosigkeit, die wiederum nicht zuverlässig zu beziffern ist, als Beweis für das Durchgreifen der Reformer in der Staatsindustrie. Doch bleibt offen, ob es akute Absatzkrisen oder effektive Strukturreformen sind, die zum Verlust der Arbeitsplätze führen.
Immerhin sehen die offiziellen Wirtschaftsprognosen der Regierung weiterhin verhältnismäßig gut aus. Zeng Peiyan, Chef der staatlichen Planungskommission und ehemaliger Wirtschaftsprofessor mit dem Ruf der Solidität, sprach vor wenigen Tagen von einem Wirtschaftswachstum von sieben Prozent in den ersten drei Quartalen 1998. Dabei würde die Flutkatastrophe das Jahreswachstum um ein Prozent drücken. Durch die geplanten Wiederaufbaumaßnahmen im 4. Quartal ließen sich jedoch die Gesamtfolgen der Flut auf weniger als einen halben Prozentpunkt Minuswachstum begrenzen.
Angenehm auffallend ist bisher, daß die Regierung noch nicht versucht, das denkbare Verfehlen des Wachstumsziels von acht Prozent in diesem Jahr mit der Flutkatastrophe zu verbinden. Tatsächlich waren wirtschaftlich wichtige Regionen kaum von Überschwemmungen betroffen.
Wirtschaftlich kommt es deshalb darauf an, inwieweit die von der Regierung versprochenen Infrastrukturinvestitionen in vielfacher Milliardenhöhe in den nächsten Monaten die stagnierende Verbrauchernachfrage in China ausgleichen und das Wachstum am Leben halten. Politisch aber wird entscheidend sein, wie glaubwürdig die Regierung unter den vielschichtigen Krisenbedingungen ihre Führungskraft machen kann. Große Parteiveranstaltungen nützen da nur wenig. Premierminister Zhu Rongji, auf dessen Kompetenz viele Chinesen vertrauen, muß das gewußt haben, als er gestern den ganzen Tag lang schwieg.
TAZ Nr. 5647 vom 29.09.1998 Seite 17 Ausland 139 Zeilen
TAZ-Bericht Georg Blume