Gratwanderung durch China

UN-Menschenrechtskommissarin Robinson bereist die Volksrepublik. Während ihres ersten öffentlichen Auftritts wird die Frau eines Dissidenten festgenommen

Aus Peking Georg Blume

Asien leidet. In Indonesien boomt die Kinderarbeit, in Thailand die Prostitution, Süd-Korea meldet täglich neue Arbeitslosenrekorde, und China zählt noch immer seine Flutopfer. Zwischen Singapur und Seoul bedrängen Wirtschaftskrise und Ökokatastrophen die sozialen Rechte von Millionen Menschen.

Ist das der richtige Zeitpunkt für die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson, auf das verzweifelte Schicksal von zweitausend inhaftierten politischen Gefangenen in China hinzuweisen - ausgerechnet in dem Land, das seit zwanzig Jahren die weltweit größten Erfolge bei der Bekämpfung von materieller Not und Hunger aufweist? Die oberste Menschenrechtsvertreterin der Vereinten Nationen vermied gestern, dem vierten Tag ihres einwöchigen China-Aufenthalts, jede Stellungnahme dazu.

Ihr Besuch an sich ist das Ereignis. Zum ersten Mal darf eine UN- Menschenrechtskommissarin durch die Volksrepublik touren, deren kommunistische Parteidiktatur sich seit jeher gegen eine "westliche", an den politischen Freiheitsrechten orientierte Auslegung der Menschenrechte wehrt. Das soll sich zwar offiziell noch in diesem Herbst ändern. Laut Robinson wird Peking nach dem UNO-Abkommen über die sozialen und wirtschaflichen Rechte nun auch das UNO-Abkommen über die bürgerlichen und politischen Rechte unterzeichnen. Doch niemand glaubt, daß damit auf Anhieb alle Regimegegner aus den chinesischen Gefängnissen gelassen werden.

Zum Beispiel Liu Nianchun. Der 50jährige Arbeiteraktivist sitzt seit drei Jahren ohne Verfahren in einem Arbeitslager. Von Menschenrechten in China wollte seine Frau Chu Hailan nichts hören, als sie gestern vor dem Hilton Hotel in Peking auf Mary Robinson wartete. Vielmehr wollte die treue Dissidentengattin eine Petition überreichen, die ihre Regierung kritisiert - oder auch nur ein hoffnungsvolles Lächeln mit dem hohen Gast aus New York teilen, um zu wissen, daß sie auf dieser Welt nicht allein und ohnmächtig ist. Doch soweit kam es nicht. Sicherheitskräfte führten Chu Hailan ab und ließen sie erst sieben Stunden später wieder frei. Sie sei geschlagen und getreten worden, berichtete Chu Hailan anschließend westlichen Journalisten.

Robinson verlas während ihres ersten öffentlichen Auftritts in China eine Stellungnahme, die die "Partnerschaft" der UNO-Menschenrechtskommissariats mit China pries. Was damit in Zukunft gemeint ist, blieb offen. Genauso die Frage, ob Robinson mit einer privaten Audienz für Vertreter von Dissidenten deren Anliegen vor ihrer Rückkehr doch noch aufwerten will. Oder ob sie, der in den nächsten Tagen ein Tibet-Besuch gestattet wird, diesmal allein auf das Vertrauen der Kommunisten setzt.

Die Entscheidung kann der früheren irischen Präsidentin nicht leichtfallen. Sie selbst stellte gestern in Peking den Jahresbericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) vor, und darin geht es eben nicht um die Sünden der Chinesen. Ganz im Gegenteil. Nur ein Drittel dessen, was Europäer und Amerikaner für ihre Hunde und Katzen ausgeben, wäre nötig, um allen Menschen der Welt eine Grundausbildung zu sichern. Und Robinson mußte wissen, daß gerade die Pekinger keine Freunde der Hunden- und Katzenhaltung sind. Solche Tiere werden in Chinas Metropolen gnadenlos hoch besteuert.

So suchte die Hochkommissarin nach einem Kompromiß. Sie betonte gestern immer wieder den engen Zusammenhang zwischen Wohlstandsentwicklung und der Verwirklichung der Freiheitsrechte: "Ein faireres System zur Verteilung des Reichtums ist gerade in der heutigen globalen Wirtschaft besonders wichtig", beteuerte die Irin ganz auf der Linie ihrer Gastgeber. Doch fügte sie hinzu, daß dieses Ziel nur "unter einer demokratischen Regierung und einem funktionierenden Rechtsstaat voll erreicht werden kann".

Interessant die Eingrenzung "voll". Robinson gestand Peking damit indirekt zu, daß sich die Lage der Menschen unter der kommunistischen Diktatur ohne Rechtsstaat dennoch gebessert hat. Noch hat Mary Robinson vier Tage, um ihren Besuch nach der geplanten Begegnung mit Parteichef Jiang Zemin am Montag in Peking erfolgreich zu Ende zu bringen.

Nötig wären dazu zweierlei: Ein klares Wort für die inhaftierten Dissidenten und eine Anerkennung der sozialistischen Sozialpolitik. Kinderarbeit und Prostitution steigen zwar auch in China, doch eine Explosion des Abbaus sozialer Menschenrechte in der Wirtschaftkrise, wie in den Nachbarländern, hat es in der Volksrepublik bisher nicht gegeben.

TAZ Nr. 5631 vom 10.09.1998 Seite 11 Ausland 146 Zeilen
TAZ-Bericht Georg Blume