OFFENER BRIEF
An den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg
Herrn Ortwin Runde
Bitte verlangen Sie von China die Freilassung des jüngsten politischen Gefangenen der Welt!
Göttingen, den 27. April 1998
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
im Namen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) appelliere ich dringend an Sie: Bitte setzen Sie sich während Ihres Besuches in China persönlich für die sofortige Freilassung des tibetischen Panchen Lama ein. Gedhun Choekyi Nyima ist der jüngste politische Gefangene der Welt. Er wurde wenige Wochen nach seinem sechsten Geburtstag mit seinen Eltern von chinesischen Sicherheitskräften im Mai 1995 entführt, weil die Tibeter in ihm die Reinkarnation des nach dem Dalai Lama wichtigsten religiösen Würdenträgers sehen. Peking erklärte kurzerhand einen anderen Jungen, dessen Eltern Mitglieder der Kommunistischen Partei sind, zum Panchen Lama. Damit hat die chinesische Regierung nicht nur das in der Verfassung verbriefte Recht auf freie Religionsausübung verletzt. Brutal hat sie auch gezeigt, daß sie alles daran setzt, die Kultur und Identität des tibetischen Volkes zu zerstören. Bitte lassen Sie die Verschleppten nicht im Stich wie die Regierungen der EU, die schon im Vorfeld der am vergangenen Freitag zuende gegangenen Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf den Vorschlag abgelehnt hat, die schweren Menschenrechtsverletzungen im chinesischen Machtbereich in einer gemeinsamen Resolution zu verurteilen.
Gerade das Schicksal dieses Kindes und der tibetischen Buddhisten in seinem Umfeld zeigt deutlich, daß sich die Menschenrechtssituation in Tibet nicht entspannt hat. Der Versuch einer Delegation des Unterausschusses für Menschenrechte des Deutschen Bundestages im Herbst 1997, sich für die Freilassung des Panchen Lama einzusetzen, wurde von den chinesischen Behörden brüsk zurückgewiesen. Diese hatten sich geweigert, eine Liste mit 11.370 Unterschriften entgegenzunehmen, die die GfbV in einer monatelangen Kampagne für die Freilassung des Kindes gesammelt hatte. Sie, sehr geehrter Herr Bürgermeister, könnten jetzt deutlich machen, daß die Einhaltung der Menschenrechte wichtiges Kriterium auch für gute wirtschaftliche deutsch-hinesische Beziehungen ist.
Zur Zeit sind etwa 2000 Tibeter aus politischen Gründen inhaftiert, darunter auch der Abt des tibetischen Klosters Tashi Lhunpo, Chadrel Rinpoche. Er wurde im April 1997 zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil er für die Auswahl des Panchen Lama verantwortlich war. 80 Tibeter, die ihn dabei unterstützt hatten, wurden nach der Entführung des Jungen inhaftiert und zum Teil zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. In den Gefängnissen ist Folter an der Tagesordnung. Uns sind mehrere Fälle von buddhistischen Mönchen und Nonnen bekannt, die zu Tode gefoltert wurden oder die nach ihrer Entlassung an den Folgen der erlittenen Mißhandlungen gestorben sind.
Mit freundlichem Gruß
Tilman Zülch (Bundesvorsitzender)