Berlin (taz) - Ein gestern erstmals vollständig veröffentlichter Geheimbericht des 10. tibetischen Pantschen Lama von 1962 macht Peking für Massenverhaftungen, politische Hinrichtungen und Hungersnot in Tibet nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1959 verantwortlich. In dem vom unabhängigen Tibet Information Network (TIN) in London veröffentlichten Bericht des bisher als pro-chinesisch geltenden 10. Pantschen Lama an den damaligen chinesischen Ministerpräsidenten Tschou Enlai heißt es: "Es gibt nachweislich eine deutliche Verringerung der gegenwärtigen tibetischen Bevölkerung." Chinas Tibetpolitik sei "eine große Bedrohung für die weitere Existenz der tibetischen Nation".
Der Pantschen Lama ist das zweithöchste religiöse Oberhaupt der Tibeter. Chökyi Gyaltsen, der 10. Pantschen Lama, war nach dem Volksaufstand und der Flucht des Dalai Lama 1959 der höchste religiöse Repräsentant der Tibeter innerhalb des Landes. Zugleich war er von 1959 bis 1964 formal Chef der von Peking eingesetzten tibetischen Regierung. "Für Peking spielt der 10. Pantschen Lama eine zentrale Rolle bei der Rechtfertigung von Chinas Herrschaft über Tibet. Denn Peking beruft sich immer wieder darauf, daß er China 1949 zur ,Befreiung` Tibets aufforderte, obwohl er damals erst elf Jahre alt war", sagte TIN-Sprecher Robbie Barnett zur taz. China hatte Tibet 1950 gewaltsam besetzt und 1951 annektiert.
1964 wurde der Pantschen Lama wegen des Geheimberichts, den Mao Tsetung als "Giftpfeil reaktionärer Feudalherren gegen die Partei" bezeichnet haben soll, verhaftet und bis 1978 unter Hausarrest gestellt. Laut TIN hatte der damals 24jährige Pantschen Lama auf Anraten seiner Berater extra 20 Seiten in den Bericht mit Lob über die Kommunistische Partei Chinas eingefügt. "Die restlichen hundert Seiten sagen das genaue Gegenteil", so Barnett. Das als "70.000-Zeichen-Petition" bezeichnete Papier enthält scharfe Angriffe gegen die chinesische Religions- und Minderheitenpolitik. Es gibt die Zahl der nach 1959 Verhafteten mit fünf Prozent der Bevölkerung an. 1987 soll der Pantschen Lama laut TIN gesagt haben, daß es in Wirklichkeit 15 Prozent gewesen seien.
Auf die Frage nach der Echtheit des Berichts erklärte Barnett, 1989 veröffentlichte Memoiren des Übersetzers des Pantschen Lama bestätigten viele der darin enthaltenen Angaben. Außerdem lägen Pamphlete der Roten Garden aus der Kulturrevolution vor, in denen Angriffe gegen den Pantschen Lama mit Zitaten aus dem Bericht unterlegt werden. Peking hat zu dem Bericht bisher nicht Stellung genommen.
Nach dem Tod des 10. Pantschen Lama 1989 brach zwischen Peking und dem Dalai Lama Streit um seine Reinkarnation aus, also die Nachfolge. Peking hatte 1995 selbst einen Jungen auswählen lassen. Der vom Dalai Lama ernannte Junge wird von den chinesischen Behörden versteckt.
TAZ Nr. 5457 vom 13.02.1998 Seite 10 Ausland 91
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TAZ-Bericht Sven Hansen