Chinas
Minderheiten erwachen
Das neue
Selbstbewußtsein irritiert Peking - Härte gegen die Uiguren
Von JAN KANTER
Berlin/Peking - Tumulte, Bombenattentate, Erschießungen und strenge Polizeikontrollen bestimmten in den vergangenen Wochen das Bild auf den Straßen in Urumqi, der Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang. Am Freitag verhaftete die Polizei erneut sieben Personen, die im Besitz von Bomben gewesen sein sollen.
Die Auseinandersetzungen begannen Ende Februar, als sich Uiguren und Polizisten drei Tage lang Straßenschlachten lieferten, bei denen mehrere Menschen starben. Die moslemische Bevölkerung der 1,65 Millionen Quadratkilometer großen Region im Westen Chinas kämpft wieder einmal gegen die Vorherrschaft der Chinesen.
Deren Bemühungen, die Bevölkerungsstruktur an der Westgrenze zu verändern, sind nicht neu. Bereits im 19. Jahrhundert versuchten die chinesischen Kaiser ihre Position zu stärken, indem sie Militärkolonien mit chinesischer Bevölkerung anlegten. Auch damals wurden Aufstände der Uiguren blutig niedergeschlagen.
Vom Beginn der fünfziger Jahre bis heute kletterte der Anteil der Han-Chinesen von 6,2 auf fast 40 Prozent der Bevölkerung. Zwölf Millionen Menschen sollen die Kommunisten in diesem Jahrhundert den Umzug in den Nordwesten befohlen haben. Die Rohstoffe in der Grenzregion sind zu wichtig für die aufstrebende chinesische Wirtschaft, als daß die Planer in Peking der Idee eines moslemisch dominierten uigurischen Staats besondere Zuneigung entgegenbringen könnten: "Die Uiguren würden sich ebenso wie die Tibeter sofort von China lösen, wenn sie die Möglichkeit hätten", sagt Thomas Heberer, Experte für Minderheiten im Fernen Osten. Der Professor, der am Ostasien-Institut der Universität Trier lehrt, sieht allerdings vor allem jenseits der bekannteren Völker der Tibeter und Uiguren wachsendes Konfliktpotential.
Neben den großen Gruppen gibt es vergleichsweise kleine Ethnien wie die Hani in der Provinz Yunnan. 1,3 Millionen Menschen halten - Peking ist weit - weitgehend an ihren Traditionen fest. Das Bauernvolk in der eher rückständigen Provinz ist bisher noch nicht durch Unabhängigkeitsbestrebungen aufgefallen.
Nominell gibt es in China rund 90 Millionen Menschen, die einer von 55 anerkannten Minderheiten angehören. 91,9 Prozent der Bevölkerung sind Han-Chinesen. Größere Minderheiten gibt es in den Grenzregionen wie Xinjiang oder Tibet. Nennenswerte Gruppen stellen Kasachen, Usbeken, Kirgisen, Tataren, Mongolen, Vietnamesen, Hui, Yi und Koreaner. "Es gibt eine ganze Reihe von ethnischen Minderheiten, bei denen sich in den vergangenen Jahren ein eigenes Bewußtsein entwickelt", beschreibt Heberer die jüngste Entwicklung in China. Viele Menschen würden zudem mittlerweile die offizielle chinesische Geschichtsschreibung hinterfragen: "Viele Gruppen merken, daß das, was sie bisher gelernt haben, nicht stimmt, und bewerten ihre Vergangenheit neu."
So seien die Yi, die fünftgrößte ethnische Minderheit, in der Volksrepublik von Historikern bislang als "Sklavenhaltergesellschaft" diskreditiert worden, damit sie kein Volksbewußtsein entwickeln. Erst jetzt trete dieser Volksstamm, der verstreut in China lebt, mit neuem Selbstbewußtsein auf. Zugleich beginnt aber auch die Auflösung der größten Volksgruppe der Han-Chinesen. Eine Vielzahl von Völkern vermischte sich in der Geschichte des chinesischen Reichs zu einem Volk. So sieht dies auch Heberer: "Die Han haben nur die Schrift gemeinsam. Sprache, Sitten und Gebräuche sind regional oft völlig unterschiedlich."
So konsequent wie die Uiguren in Xinjiang lehnen bislang allerdings nur die Tibeter die Vorherrschaft der Chinesen ab. Zwar ist Tibet autonome Region. Zu spüren ist davon allerdings nur wenig: Die Vertreter Pekings vorfolgen diejenigen, die ihrer Religion und ihrer Kultur offen nachgehen. Der Dalai Lama lebt nach wie vor im indischen Exil, seine Anhänger werden immer wieder niedergeknüppelt.
Nach ihrem Sieg 1949 richteten die Kommunisten fünf autonome Regionen ein. Doch das Recht auf Selbstbestimung hoben sie ebenso unauffällig wie schnell wieder auf: "In den autonomen Regionen gab es nie richtige Eigenständigkeit, sondern immer die Herrschaft der Partei", sagt Thomas Heberer, der im Minderheitenproblem die Gefahr künftiger Auseinandersetzungen sieht. Viele Konflikte könnten jedoch entschärft werden: "Den meisten Gruppierungen würde es völlig ausreichen, wenn sie innerhalb der Volksrepublik die versprochene Autonomie auch tatsächlich bekämen."
Copyright: DIE WELT, 8.3.1997