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Xinjiang, das Land der chinesischen Muslime: „Die Polizei und das Volk sind ein Herz und eine Seele“

Oase der blühenden Legenden


Lange schon leiden die Uiguren unter dem Druck Pekings – jetzt fürchten sie, im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus noch stärkere Repressalien

Von Kai Strittmatter

Kaschgar, im Oktober – Es ist ein Ort, der die Sinne verwirrt. Nicht nur, weil er sich ohne Warnung über den fremden Besucher ergießt: „Boish, boish! Aus dem Weg, aus dem Weg!“, weil seine Farben die Pupille unter Feuer nehmen, wie sie es seit zwei Jahrtausenden getan haben. Eine von Goldglanz und Mistgestank überbordende, vor Versprechen und Betrügereien platzende Oase inmitten der Wüste. Wie vor eintausendundeiner Nacht. Doch da ist heute mehr: Kaschgar ist nicht mehr bloß ein Ort der Legenden – es ist ein Ort der Lüge. Nur die Lüge, die fantasieloseste, die himmelschreiendste dazu, hat das Recht auf Tageslicht, auf Druckerschwärze und Wandfarbe, auf Schulbuchpapier und Museumswürde. Denn nur sie bringt Stabilität. Glauben die, die sie kontrollieren. Die Chinesen. Sie bringt noch etwas anderes: Furcht. Spüren die, die von ihr kontrolliert werden. Die Uiguren. Zwei Völker, zwei Wahrheiten.

Eine Tafel im Museum: „60 vor Christus wurde die chinesische Herrschaft über Xinjiang errichtet, seit damals ist die Region offiziell Teil von China“. Gelogen. Steinmosaik auf einem Wüstenrücken vor Kaschgar: „Die Polizei und das Volk sind ein Herz und eine Seele“. Gelogen. Inschrift am Eingang zur Moschee: „Religions- und Glaubensfreiheit werden beschützt“. Lüge. „So ist die Politik der Regierung sehr populär“. Große Lüge. „Die Menschen der verschiedenen Nationalitäten gehen gemeinsam durch dick und dünn“. Ha! Der Gouverneur der Provinz Xinjiang: „Wir werden noch kompromissloser gegen die Spalter des Vaterlandes vorgehen“. Das stimmt.

Die Lüge der Macht macht die Ohnmächtigen sprachlos. Jetzt mehr als zuvor: Die Angst ist größer geworden, seit den Anschlägen von New York, seit den Bomben von Afghanistan: „Die Menschen sind traurig“, sagt einer. „Wenn so etwas passiert, ist es nicht gut für die Muslime in China.“ Es drängt manchen so, zu berichten, aber: „Sorry, die Chinesen ...“ Ängstlicher Blick über die Schulter. Ja? Ein paar Worte brechen hervor, dann ab: „Zu gefährlich!“ Ein Satz nach hinten, wie in einem komischen Film, weg von dem Ausländer.

„Wir müssen still sein“

Nirgends ist es gefährlicher als hier, auf der Gasse, im Basar, bei der Moschee. Es wimmelt von Spitzeln, eigene Landsleute, bezahlte Uiguren. Student Raleb ist nervös. Vor drei Tagen erst ist ein Stadtführer festgenommen worden, weil er zu gesprächig war. „Bitte!“ – fast flehentlich – „Wir müssen still sein“. Der lustige Wirt berichtet, er selbst sei von der Polizei abgeführt worden, nachdem ein Kanadier fünf Tage hintereinander in seine Garküche zum Essen kam. Warum er schlechte Dinge über China verbreite, wollte die Polizei wissen. Gegen 1000 Yuan, drei Monatseinnahmen, hätten sie ihn laufen lassen. Sorry, flüstert er und fächert konzentriert seinen Grill. Raleb, wie oft betest du? Schweigen, dann: „Lass uns nicht über Politik reden“. Warum werden diese alten Häuser abgerissen? „Entschuldige ... das ist politisch“. Hast du chinesische Freunde? „Gib zu, so gute Nudeln habt ihr in Deutschland bestimmt nicht!“ Haben wir nicht, so knatschig, nie im Leben.

Raleb ist ein besonderer Name, er bedeutet „Sieg“. Der Vater wählte ihn, weil Raleb 1976 geboren wurde – das Jahr, in dem Mao Zedong starb und in dem die Kulturrevolution zu Ende ging. Sie überlebt zu haben, war für einen Intellektuellen und im Herzen religiösen Mann ein großer Sieg. Die Imame waren im Arbeitslager verschwunden, die Moscheen in Fabriken und Schweineställe verwandelt worden. Schweineställe, sagt Raleb, stell dir vor. Die Moscheen sind längst wieder dem Islam gewidmet, doch werden sie politisch überwacht, die besonders fügsamen erhalten neben dem Tor ein Messingschild: „Fünf-gut- Moschee“. Wer unbedingt will, soll patriotisch beten, im Herzen neben Allah das „Vaterland“ – das natürlich China heißt.

Raleb erzählt vom Vater, der noch heute nur heimlich das Gebet verrichte. Als Lehrer würde ihn ein öffentliches Gebet den Job kosten. Ebenso ein langer Bart. Frauen im Staatsdienst dürfen kein Kopftuch und keine langen Röcke trage – Zeichen von Frömmigkeit. „Die Chinesen mögen es wohl sexy“, sagt Raleb und lächelt verlegen. Selbst betrat er mit 18 das erste Mal eine Moschee – vorher verbietet es die Regierung. Jetzt, als Student, ist ihm das Gebet wieder verwehrt: Würde er in der Moschee gesehen, er flöge sofort von der Hochschule. Mit einem Male erzählt und erzählt der 25-Jährige, denn er hat uns an einen Ort geführt, der ein paar wahre Worte verträgt, sie zumindest gleich verschluckt: der Friedhof. Eine warme Kegellandschaft von rötlichem Ocker, eine geometrische Wüste inmitten der Oase. Raleb, der Student in Jeans und Turnschuhen, spart schon für seine Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka.

Uigurenland ist hier, seit mehr als 1200 Jahren. Ostturkestan nannten es die Abenteurer des letzten Jahrhunderts auf der Spur der Seidenstraße, die Sven Hedins und Sir Aurel Steins; Ostturkestan nannten es auch die Militärs Russlands und Großbritanniens, die hier ihr „Great Game“ ausfochten, das Ringen um die Beherrschung Zentralasiens. Die Chinesen, die 60 vor Christus hier erstmals eine Garnison errichteten, das Land aber erst 1884 zu ihrer Provinz machten, nannten es Xinjiang, „Neue Grenzregion“. Seither ist es Chinas Wilder Westen, seine größte Provinz und größte Sorge zugleich. Denn es war immer das Land der turkstämmigen Uiguren und der mit ihnen verwandten Kirgisen, Tadschiken, Usbeken und Kasachen. Das Land der Muslime. Und das Land der Taklamakan, der „schlimmsten und gefährlichsten Wüste der Welt“. Der Schwede Sven Hedin hat das gesagt, der hat wenigstens ihren Namen Lügen gestraft, der bedeutet: „Gehe hinein und du kommst nie wieder heraus.“ Seine Menschen, seine Oasen und Berge hatten stets mehr mit Zentralasien gemein als mit China: Geschichte, Volk, Architektur und Religion. Ein Land der Chinesen war es nie. Das soll sich ändern, für alle Zeiten, wenn es nach Peking geht.

Noch 1950 waren nur fünf Prozent der Bevölkerung Xinjiangs Han- Chinesen, heute stellen die Neusiedler schon um die 40 Prozent der 18 Millionen Bewohner. In der Hauptstadt Urumqi kamen einmal auf acht Uiguren zwei Han-Chinesen, heute ist das Verhältnis umgekehrt. China will Xinjiang sinisieren. Die einst von Russland begehrte Region gilt Peking als strategisch unverzichtbar. Gleichzeitig bergen die oft unendlich trostlosen Geröllebenen unermessliche Schätze an Öl und Gas. China will sie ausbeuten für die energiehungrigen Metropolen des Ostens, es will Kontrolle – so hat es Millionen von Siedlern ins Grenzland geschickt: Soldaten, zwangsverschickte Städter und verurteilte Kriminelle, was unter den Uiguren früh den Eindruck erweckte, bei ihnen werde der Müll der chinesischen Gesellschaft abgeladen. Und Chinas Atomtests dazu: ganze Landstriche wurden von unheimlichen Symptomen heimgesucht, man sprach nur von „Krankheit Nr. 1“ und „Nr. 2“.

Was Xinjiang Stabilität bringen sollte, hat ihm auch Unruhe gebracht: Anders als die benachbarten Tibeter haben sich die Uiguren immer wieder mit Gewalt gewehrt gegen die Fremdherrschaft, in vielen regionalen Aufständen. Ab und an explodieren Bomben, wird einem der chinesischen Herren oder ihrer Paladine die Kehle durchgeschnitten.

Studium für den Kebab

Jetzt fürchten die Einheimischen eine neue Welle der Sinisierung: China hat unter dem Schlachtruf „Auf nach Westen“ ein gewaltiges Investitionsprogramm für sein noch in Armut gefangenes Hinterland aufgelegt. Damit soll auch Xinjiang endgültig an China gebunden werden. „Wenn die Wirtschaft sich entwickelt“, prophezeit ein KP-Strategiebuch, „werden die Menschen ihre Aufmerksamkeit allmählich von der Religion auf die Freuden weltlicher Genüsse lenken.“ Doch statt Freude wächst bei den Uiguren Frust und Verbitterung. Das „Go West-Programm Pekings erscheint ihnen als großer Plan zur Plünderung ihrer Rohstoffe; die Politik der lokalen Behörden gibt ihnen das Gefühl, in der eigenen Heimat nur Bürger zweiter Klasse zu sein, ständiger Schikane und Verdächtigung ausgesetzt. „Ein Uigure kann zehn Jahre studieren, er wird oft doch als Essensverkäufer enden“, meint der Kebabwirt neben Kaschgars Idkah-Moschee. „Wenn er 10000 Yuan hat, kann er sich einen Posten in der Verwaltung kaufen – aber auch dann kann er nur die Nummer zwei oder drei werden. Der Boss ist immer ein Chinese.“ Gouverneur der Provinz ist stets ein Uigure, im Moment heißt er Abulahat Abdurixit, doch das Sagen hat seit jeher ein anderer: der Parteisekretär, der natürlich Chinese ist.

Xinjiang ist der Grund, warum Chinas Regierung jetzt fest zu Amerika und dessen Militärschlägen gegen Afghanistan steht. Die Uiguren haben nun große Sorgen: Sie fürchten, Peking könnte unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus die Repressalien gegen ihr Volk verstärken. Tatsächlich verlangte Chinas Außenministerium am Sonntag die „Kooperation“ des Auslands und der Vereinten Nationen beim Vorgehen Pekings gegen Xinjiang. Heißt es etwa nicht, bis zu 300 Uiguren seien in afghanischen Lagern ausgebildet worden? „Diese Leute wurden von einem geheimen Lager von bin Laden trainiert“, sagte Außenminister Tang Jiaxuan. Und hat die Polizei nicht jüngst Zellen der grenzübergreifend operierenden Untergrundorganisation Hizb-ut Tahrir ausgehoben, die in der Region einen islamischen Staat errichten wollen?

Nur: Xinjiang ist eben nicht Tschetschenien – der militante Widerstand ist schwach und unorganisiert. Die Verfolgung von Seperatisten trifft oft genug keine Terroristen, sondern einfach jene, welche ihre uigurische Identität und ihre Religion pflegen. Die Kampfansage an den Terrorismus ist in Xinjiang oft genug eine an die Menschenrechte. Zimperlich gehen die Behörden nicht vor. Ende letzten Jahres verlangte Gouverneur Abdurixit, man müsse die „spalterischen Elemente wie Ratten über die Straße jagen, wo jeder ruft: , Tötet sie!‘“ In einer Gasse in Kaschgar klebt an einer Mauer ein Plakat auf uigurisch, das Papier ist noch neu, darauf die Namen von fünf Menschen rot durchgekreuzt: in China übliches Symbol für die Auslöschung ihrer Leben durch die Kugel der Henker. Die vier Männer und eine Frau wurden exekutiert wegen Mord und Vergewaltigung – und einer wegen „Sprengstoffvergehen“. Und gerade als in Schanghai Präsident Bush seine Gastgeber Ende letzter Woche zugleich lobte und mahnte, keiner dürfe den Kampf gegen den Terror als Ausrede für die Verfolgung nationaler Minderheiten benützen, meldete aus Xinjiang die Abendzeitung der Stadt Yili die Hinrichtung zweier Uiguren. Ihr Verbrechen: „Spaltung des Vaterlandes.“ Amnesty International zufolge ist Xinjiang die einzige Region in China, wo politische Gefangene hingerichtet werden.

Die legendäre Oase Kaschgar, so fruchtbar, dass sie Granatapfel und Feige zu ihren Symbolen machte, ist die letzte wahrlich uigurische Stadt. Die Chinesen haben hier ihre eigenen Viertel, sie halten sich fern von den in ihren Augen rückständigen, ungebildeten, abergläubigen, undankbaren Uiguren: „Nach allem, was wir für sie aufgebaut und getan haben“, sagt seufzend ein chinesischer Lehrer, „sind sie immer noch gegen uns.“ Auch hier, am äußersten westlichen Rand ihres Reiches, zwei Zeitzonen von ihrer Hauptstadt entfernt, klammern sich die Chinesen stur an die Peking-Zeit – und leben so gegen die Sonne, aber im Einklang mit dem, was ihnen Zivilisation ist. Noch ist in Kaschgar nur jeder vierte Bewohner ein Han-Chinese, Angst, sagen sie, hätten sie keine: „Wir haben doch die Armee“, sagt einer. „Hier muckt keiner auf.“

Kokettes Zwinkern

In der Altstadt hat sich das uigurische Leben bewahrt, mit seinen Lehmhäusern, Basaren, Kebabständen und den oft mittelalterlich anmutenden Gassen. Keine Stadt der Erde ist weiter entfernt von den Ozeanen, keine im chinesischen Reich weiter von Peking. Und keine ist so nah an Afghanistan. „Wenn jemand etwas zu spüren bekommt, dann wir“, sorgt sich der Teppichhändler Yasin. Fragt man nach den Taliban, dann erntet man meist ein vielsagendes Schweigen, dem oft der Satz folgt: „Es sind doch Muslime, wie wir. “ Die Uiguren sind ebenfalls Sunniten, doch praktizierten sie den Islam nie so rigide wie die Taliban.

In Kaschgar sieht man nur noch wenige Frauen unter dem braunen Wollschleier. Viele tragen lediglich ein Kopftuch, manche nicht einmal mehr das. Stolz wirken sie und selbstbewusst, sie weichen den Blicken der Männer nicht aus, manche schicken gar ein kokettes Zwinkern. Auf dem Platz vor der Idkah-Moschee ist abends Gebrauchtwarenmarkt. Wenn hoch oben vom Minarett der Imam zum Abendgebet ruft, vermischt sich seine Stimme mit verzerrten Gesängen aus Fernseher-Pyramiden hier unten: Trauben von Menschen verfolgen gebannt das Neueste aus Bollywood – indische Musicals mit spärlich bekleideten Schönheiten, denen jeweils ein singender Hindu-Elvis nachstellt.

Viele Uiguren, Basarhändler wie Väter und Großväter, klagen: Die Touristen bleiben aus seit dem 11. September, die Pakistani ebenfalls, die sonst Seide und billige Elektronik nach Hause schleppen. Dafür kommen andere wieder, mitternachts, ganze Trupps von Polizisten. Sie durchsuchen die Häuser, durchwühlen die großen, mit Goldblech beschlagenen Hochzeitstruhen und öffnen noch die kleinste Box. „Kassetten, Video-CDs und Bücher nehmen sie mit. Bei mir waren sie schon dreimal“, berichtet Yasin. In ihrem wunderschön renovierten Haus in der Altstadt serviert Krämersgattin Aynur kräftige Nudelsuppe. Ihre 16-jährige Tochter weine ständig, sagt sie: Mutter, lass uns weggehen von hier, ins Ausland! Aynur hat Verwandte in Kirgisien und Usbekistan, mehr als 300000 Uiguren sollen im Exil leben. Die Deutschen, sagt Aynur lächelnd, die Deutschen sind gute Menschen: „Ihr habt vielen unserer Flüchtlinge Asyl gegeben.“

Truppen aus Urumqi sind durch Kaschgar gezogen, auf dem Weg zur chinesisch-afghanischen Grenze. Und vor drei Wochen fiel ein großes Fußballspiel aus: Das Sportstadion haben sich die „Wujing“, die Bewaffnete Volkspolizei zum Lager gemacht. Über dem Eingang weht nun ein Banner: „Seht im Volk Eure Eltern und im Stützpunkt Eure Heimat“. Die Wujing sind keine Soldaten, sie werden eingesetzt gegen den inneren Feind, gegen Aufrührer und Demonstranten. Im letztem Jahr hat die Regierung die Eisenbahnlinie nach Kaschgar gebracht, Aufschwung soll sie bringen, Aynur sieht das anders: „Chinesen werden kommen, sagt sie, „viele Chinesen.“

Mittwoch, 24.10. 2001 – Süddeutsche Zeitung - Druckausgabe