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Doch durch die Öffnung der Region wurden auch mehr Details der tatsächlichen Lage bekannt. So erfuhr man rasch von Aufständen diesmal nicht der Turkestaner, sondern landverschickter, während der
Kulturrevolution nach Xinjiang umgesiedelter Han-Chinesen. Im November und Dezember 1980 suchten etwa 100.000 aus Shanghai und Zhejiang stammende Angehörige dieser Gruppe, die als Jugendliche verschickt worden waren, um
die Erlaubnis zur Heimkehr nach. Allein in Aksu, einem Schwerpunktgebiet han-chinesischer Ansiedlung in der südlichen Hälfte von Xinjiang, demonstrierten 70.000, die seit Anfang der sechziger Jahre dort festgehalten
wurden, und besetzten faktisch die gesamte Stadt mitsamt allen Behörden. Die Manifestation wurde von chinesischem Militär niedergeschlagen, wobei es mindestens zehn Todesopfer gab. Aksu ist Mittelpunkt des ersten aller
Produktions- und Aufbaukorps (PAK) in Xinjiang, das 1954 der Provinz-Parteichef Wang Zhen eingerichtet hatte. Später wurden hier, wie auch in Shihezi, Karamai, Kuldscha und anderen Orten, vor allem Jugendliche aus
den Millionenstädten des 4.000 km entfernten Westens angesiedelt. Die Landverschickungsbewegung (xiafang) war schon 1964 angelaufen und während der Kulturrevolution systematisch ausgebaut worden. Allein aus Shanghai
wurden, nach einer Untersuchung des Soziologen Fan Youyan, über 100.000 Schulabgänger in den fernen Westen gebracht. Von großem Enthusiasmus für den Sozialismus getragen, seien sie im Glauben nach Xinjiang gekommen, ein
rückständiges Land rasch umwandeln zu können, wie es ihnen die Propaganda vorgegaukelt habe; doch sie waren auf die Gegnerschaft der einheimischen Bevölkerung, die während der Verfolgungen unter der ultralinken
Herrschaft während der Kulturrevolution gewachsen sei und sich an den Jugendlichen entladen habe, sowie die extrem harten Lebensbedingungen in der Wüste nicht vorbereitet gewesen. Die Desillusionierung wurde größer,
nachdem bei der Gewährung des Rückkehrrechts scharf selektiert wurde: Nur Kranken und solchen, die einen Arbeitsplatz in Shanghai nachweisen konnten (in aller Regel als Erben der in den Altersruhestand gegangenen
Eltern) wurde Wohn-recht in der Weltstadt an der Küste zugestanden. Von der im ganzen übrigen China 1975 vollzogenen Auflösung der PAKs hatten die in Xinjiang lebenden Verschickten keinen Nutzen, denn dort blieben die
PAKs bestehen und wurden 1982 sogar ausdrücklich neu organisiert. Ab 1983 wurde die ökonomische Reformpolitik auf die PAKs ausgedehnt. Sie mußten sich nun selbst ernähren und die zivilisatorische und kulturelle
Infrastruktur aus eigenen Mitteln unterhalten. Jedem wurden vier bis sieben ha (60 bis 100 mu) Land zugestanden, von dessen Ertrag er zu leben hatte. Doch bisher hatten diese — inzwischen über dreißig Jahre alten —
»Jugendlichen« ausschließlich im Rahmen des straffen Kommandos der PAKs gearbeitet und waren auf ein bäuerliches Leben gar nicht vorbereitet. Landmaschinen und Saatgut standen ihnen nicht zur Verfügung, sondern mußten
gekauft oder geliehen werden. Die landwirtschaftlichen Erträge mußten außerdem Schulen, Renten (die in ganz China immer betriebsbezogen sind), Verwaltung und medizinische Versorgung finanzieren. Bis 1983 konnten nur 72
der insgesamt aus den PAKs hervorgegangenen 183 Staatsfarmen einen bescheidenen Gewinn erwirtschaften, die übrigen waren verschuldet — seit der Kulturrevolution, wie chinesische Zeitungen dann auch einräumten. Selbst in
Musterbetrieben waren die Verfügung über Landmaschinen, die ursprünglich für Großflächenwirtschaft angeschafft worden waren, und die Zuteilung von Irrigationswasser nicht gelöst, und die Landzuteilung befand der
damalige chinesische Premier Zhao Ziyang 1983 als durchaus unzureichend: Statt eines mu müsse man den Haushalten 50, ja 200 mu geben. Die daraus resultierenden Spannungen verschärften sich durch einen weiteren
Umstand. Xinjiang wurde immer mehr auch zum Zwangsaufenthalt verurteilter Straffälliger, die ihre Strafzeit — oft »Umerziehung durch Arbeit« — in den PAKs absolvierten und nach Verbüßung ihrer Zeit in ihre Heimat
zurückkehren durften. Für die als begeisterte Revolutionäre gekommenen und völlig desillusionierten »Shanghai-Jugendlichen« bedeutete das eine weitere Demütigung. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung im
Frühjahr 1989 kündigte der lange Zeit in Xinjiang tätig gewesene Wang Zhen, mittlerweile Vizepräsident der Volksrepublik, nochmals die Verschickung von 400.000 Demonstranten und Intellektuellen »zur Umerziehung« nach
Xinjiang an. In den Augen der turksprachigen Bevölkerung, die die Han-Zuwanderer ohnehin ablehnten, wurden die chinesischen unfreiwilligen Nachbarn so zu einer Negativ-Auslese der Han-Nation. So führen selbst relativ
begrenzte Gewalttaten rasch zu umfassenden Ausschreitungen. Für die Ausdehnung der Familienplanung auf die ethnischen Minderheiten setzte sich eine namentlich nicht genannte FamilienplanungsfunktiOnärin aus Xinjiang im
Oktober 1988 ein. In vierzig Jahren werde die Bevölkerungszahl Xinjiangs von 8,6 auf 17 Millionen steigen, was einer Anhebung des Lebensstandards im Wege stehen würde. Die Religionspolitik wurde 1980 nach den
kulturrevolutionären Restriktionen und Verfolgungen wieder gelockert. Der islamische Verband Xinjiangs durfte seine Tätigkeit wiederaufnehmen, wenngleich unter staatlicher Kontrolle. Die meisten Moscheen wurden wieder
geöffnet, allein in Kaschgar 92 binnen zwei Jahren (es waren auf dem Höhepunkt der Verfolgung nur drei bestehengeblieben), der Koran und die Hadith-Sammlung des al-Buchari wurden neu gedruckt und durften frei verkauft
werden. Ersten — sorgfältig ausgelesenen — Gläubigen wurden Pilgerfahrten (hadj) nach Mekka erlaubt; doch schon 1985 konnten einige tausend Hadschis Mekka besuchen. Auch die im Mai 1981 erlaubte und im September 1982
endgültig dekretierte Rückkehr zur uigurischen Schrift, die auf dem arabischen Alphabet (»Schrift des Koran«) beruht, ist im Kontext der Religionspolitik zu sehen. |