|
Neben der schon erwähnten Sozialisierung des Stiftungsbesitzes (waqf) unternahmen die chinesischen Behörden weitere Maßnahmen gegen den Islam, teils aus ideologischer Motivation, teils in Erkenntnis der
politisch integrativen Kraft der Religion. Die Moscheen wurden schon in der Bodenreform-Phase der Aufsicht der Kommunistischen Partei unterstellt, deren Kader (in diesem Fall einheimische) häufig die Imame und Mollahs
auch aus den religiösen Übungen verdrängten. In zahlreichen Moscheen wurden Mao-Porträts aufgehängt wie in allen öffentlichen Gebäuden, hier aber als besonderes Sakrileg angesichts des Bilderverbots des Korans.
Religiöse Feiertage durften nicht mehr wahrgenommen werden, weil sie die Produktionsziele beeinträchtigen konnten; insbesondere das Fastengebot während des Ramadan wurde aus diesem Grunde administrativ verboten.
Schließlich wurden im Laufe von zehn Jahren nach 1965 an die 29.000 Moscheen in Xinjiang geschlossen, in Fabriken, Kasernen oder Lagerhallen umgewandelt. Turkestanischen Angaben zufolge wurden 54.000 Imame verhaftet und
der »Reform durch Arbeit« unterzogen, d.h. zu Zwangsarbeit verurteilt. Am Ende dieser dritten Phase, um 1958, war die Umgestaltung Xinjiangs in administrativer Hinsicht nahezu abgeschlossen. Doch nun gebot der sich
entwickelnde chinesisch-sowjetische Konflikt wiederum eine andere Politik. Wegen der traditionellen Beziehungen zwischen Ost- und West-Turkestan konnte hier ein Potential von Konflikten entstehen, das sich die
Sowjetunion zunutze machen konnte. Die chinesische Propaganda wandte sich nun gegen den »Han-Chauvinismus«, der erst lokalen Nationalismus erzeuge. Die Grenze zur Sowjetunion wurde fast vollkommen geschlossen, am Ende
der siebziger Jahre bestand außer einer einzigen Postverbindung kein einziger legaler Grenzübergang mehr. Die noch in Xinjiang tätigen sowjetischen Berater, politischen Funktionäre und Staatsvertreter mußten die Region
bis 1960 sämtlich verlassen, die Konsulate wurden 1962 aufgelöst. Zugleich wurde die Ansiedlung von Han-Chinesen besonders an der Grenze forciert, wenngleich die gigantomanischen Pläne der frühen fünfziger Jahre, die
bis zur Jahrtausendwende eine Neuansiedlung von Dutzenden Millionen Han-Chinesen (die Zahlen gehen bis zu neunzig Millionen) voraussagten, nicht wieder aufgenommen wurden. Die Ansiedlung der Han — meist aus den
Küstenstädten wie Shanghai — betraf im wesentlichen drei Gruppen: 1. Jugendliche, die nach der Absolvierung der Schulzeit »aufs Land hinuntergeschickt« (xiafang) wurden, um dort den Sozialismus zu propagieren und Bauern
zu werden und so zugleich den Städten ein größeres Arbeitslosenproblem zu ersparen; 2. Soldaten, die — meist auf Staatsfarmen — angesiedelt wurden, um als eine Art Grenz- und Wehrbauern gegen eine befürchtete
sowjetische Intervention und für möglich gehaltene nationalistische Aufstände der Moslems eine rasch verfügbare Eingreifreserve zu haben; 3. zwangsangesiedelte Kriminelle. Die kleineren Oasen und die Nomadengebiete —
zum Teil auch die Ackerbaugebiete im Norden Xinjiangs — sind noch ganz vorwiegend uigurisch und (soweit es sich um Nomaden handelt) kasachisch. Daraus resultieren immer wieder ethnische und politische Spannungen. Die
Bevölkerungszusammensetzung änderte sich seit der Befreiung folgendermaßen: Nation 1940 1982 1982 Zahl
Uiguren 79,1 45,5 5.949.661 Kasachen 8,6 6,9 903.370 Hui, Dunganen . 4,4 570.788
Mongolen 1,7 0,9 117.460 Kirgisen 1,7 0,9 112.979 Sibo . 0,2 27.364 Tadschiken . 0,2 26.484 Usbeken 0,2 0,1 12.433 Tataren 0,1 0,0 4.106 zusammen 91,4 59,1 7.724.645 Han-Chinesen 7,9 40,4 5.286.533
Mandschu 0,3 0,1 9.137 Da'uren . 0,0 4.369 Russen 0,3 0,0 2.622 andere 0,4 54.335 zusammen 99,9 100,0 13.081.641
Ereignisse seit 1955
Die chinesische Presse schwieg sich in den
ersten Jahrzehnten nach der Machtübernahme in Xinjiang über die regionale Entwicklung weitgehend aus und beschränkte sich auf Erfolgsmeldungen und nicht nachprüfbare statistische Datenreihen. Im allgemeinen dürfte der
Aufbau der staatlichen Struktur gelungen sein. Erhebliche Anstrengungen zur Industrialisierung wurden unternommen, so entwickelte sich Ürümqi von einer befestigten turkestanischen Kleinstadt von 80.000 Einwohnern zur
Millionenstadt mit garn überwiegend chinesischem Charakter. Das Verkehrswesen wurde, selbstven tändlich auch aus strategischen Gründen, rasch ausgebaut, der Bau der Bahnlinie von Lanzhou nach Westen jedoch wegen des
sowjetisch-chinesischen Konflikts nicht über Ürümqi hinaus fortgetrieben. Rings um di~ Taklamakan-Wüste und — strahlenförmig auf Ürümqi orientiert — engmaschig in der dsungarischen Ebene wurde ein Allwetter-Straßennetz
angelegt. Nach chinesischem Muster wurde ein laizistisches, dafür von der Kommunistischen Partei kontrolliertes Schulsystem eingerichtet; die medizinische Versorgung wurde ebenfalls nach chinesischem Muster aufgebaut.
Insgesamt wurde Xinjiang zum erstenmal in seiner Geschichte in nennenswertem Umfang in die chinesische Politik und Lebensweise eingegliedert, ohne ganz integriert worden zu sein. Zur Zufriedenheit der turkestanischen
Bevölkerung führte das jedoch nicht; Widerstandsaktionen dauerten an, ohne allerdings das Ausmaß der Bewegungen in den vierziger und frühen fünfziger Jahren noch zu erreichen. Insgesamt hat es aber bis zum Jahrzehnt der
Kulturrevolution, zwischen 1950 und 1968, wenigstens 58 größere Aufstände gegeben, über die Einzelheiten auch außerhalb der Grenzen Chinas bekannt wurden. 360.000 Turkestaner kamen in diesem Zusammenhang ums Leben (ein
beträchtlicher Anteil durch Todesurteile), rund 500.000 wurden zu oft mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt. Eine Viertelmillion floh ins Ausland. Der Repression fiel somit nahezu jeder zweite erwachsene Turkestaner in
der einen oder anderen Weise zum Opfer. Kritische Veröffentlichungen in der chinesischen Presse während der Lockerungsperiode vor 1990 bestätigten später diese Daten, die von ExilTurkestanern lange vorher genannt worden
waren. In Khotan kam es im März 1956 zu schweren »konterrevolutionären« Zusammenstößen zwischen turkestanischen Gruppen und einer chinesischen Baubrigade, bei der (nach chinesischen Angaben zwanzig) Demonstranten und
»Rebellen« mehrere Kader verwundet und getötet haben sollen, Bei einer späteren öffentlichen Verurteilung wurden die angeblichen Rädelsführer bezichtigt, nationalistische und religiöse Siogans verwendet zu haben, um die
»rückständigen Massen« aufzuhetzen. Die Verurteilten hatten sämtlich uigurische Namen. Die kurzfristige chinesische Reformperiode der »hundert Blumen« erreichte Xinjiang zu spät, um größere Wirkungen zu erzielen. Die
nachfolgende »Kampagne gegen die Rechtsabweichler« noch im selben Jahr traf die Region jedoch in doppelter Weise. Erstens wurde die Unterdrückung jeglicher Unabhängigkeitsregungen noch verschärft, zweitens wurden in
China verurteilte oder einfach nur administrativ festgehaltene angebliche Rechtsabweichler in großer Zahl nach Xinjiang verbannt. Da ebenfalls in dieser Zeit die Verschickung von Straffälligen nach Xinjiang üblich
wurde, setzte sich in der Region der Eindruck fest, daß Chinas Mächtige die Lästigen der Gesellschaft und das Lumpenproletariat bewußt zum Zweck der Sinisierung und der Schürung von ethnischen Zwistigkeiten nach
Xinjiang abschieben. Die Kampagne gegen die »Rechtsabweichler« traf schon im Sommer 1957 ehemalige Mitglieder und Sympathisanten der Guomindang, ehemalige Grundbesitzer und reiche Bauern. Es wurden auch Personen zur
Rechenschaft gezogen, die nach der Verbüßung einer »Umerziehung durch Arbeit«-Strafe aus den Jahren 1951/52 in Xinjiang geblieben waren. Vereinzelt waren auch — möglicherweise doch im Zusammenhang mit der »Hundert
Blumen«-Kampagne — die Grundbücher von Kollektivwirtschaften verbrannt und deren leitende Kader mißhandelt worden. Es wurden bis November vom Zeitweiligen Stadt-Volksgericht Ürümqi in diesem Zusammenhang eine Person zum
Tode, eine zu lebenslanger Haft und fünf zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt; die chinesische Presse der Region (eine andere gab es nicht) berichtete nicht vollständig darüber. Schon im folgenden Jahr führte eine
sprachpolitische Maßnahme der chinesischen Regionalverwaltung zu einem heftigen Studentenprotest: An der Lehrerbildungsakademie in Ürümqi sollte das Uigurische durch das Chinesische als Lehrsprache ersetzt werden. Ein
Streik der Studenten, die trotz inzwischen neunj ähriger politischer Indoktrination und Umschulung »an nationalistischen Gesichtspunkten festhielten«, dauerte auch nach der Unterbindung der Lebensmittelversorgung in den
Studentenheimen mehrere Wochen. Die Mehrheit des Lehrpersonals wurde strafversetzt, eine große Zahl der Studierenden relegiert. Im gleichen Jahr 1958 berichteten Flüchtlinge erstmals seit 1949 wieder von umfangreicherem
bewaffnetem Widerstand, der auf 60.000 Bewaffnete geschätzt wurde, von denen 35.000 nicht nur sowjetische Waffen besaßen, sondern auch eine sowjetische militärische Ausbildung absolviert haben sollten. Die Zahlen
konnten nicht offiziell bestätigt werden, doch steht zweifelsfrei fest, daß die Bergregionen südlich von Khotan und im Grenzgebiet zwischen Xinjiang, Kirgisien und Kasachstan in einer Zone etwa nördlich von Artux bis
Utschturfan längere Zeit in der Hand von bewaffneten Aufständischen waren. Im Untergrund wurde eine »Regierung der Uigurischen Republik« geschaffen. Erst Anfang 1960 wurden diese Aufstände von starken bewaffneten
Kräften aus dem chinesischen Kernland niedergeschlagen. In Khotan brach unmittelbar nach dem tibetischen Aufstand des Frühjahrs 1959, im März, abermals eine Revolte aus, die von vier islamischen Honoratioren geführt
wurde. Über 10.000 Jugendliche stürmten ein Gefängnis, befreiten 600 Gefangene und töteten 50 Mann des Wachpersonals. Danach brachen sie Nahrungsmitteldepots auf und verteilten Getreide an die Bevölkerung. Der Aufstand
wurde nach sechs Tagen durch Truppen ai Ürümqi niedergekämpft. Die chinesischen Truppen waren das ganze Jal hindurch von der Bevölkerung isoliert, der chinesischen Zuwanderur schlug wenigstens passive Resistenz
entgegen. Ende 1961 wurde eine »Ve schwörung« zur Errichtung einer Ostturkestanischen Republik aufgedeck über 500 Turkestaner, von denen die Mehrheit der Politischen Konsultati~ konferenz und der Islam-Föderation
Xinjiangs angehörten, wurden it Dezember 1961 in diesem Zusammenhang inhaftiert. Ein größerer Aufstand wurde 1962 niedergeschlagen. Im Frühjahr de Jahres hatten sich wegen der forcierten Han-Ansiedlung und der
fortdauern den Verschlechterung der Versorgungslage im Gebiet von Kuldscha (Ili Gebiet) und Tacheng zu beiden Seiten des Borohoro-Gebirges die — wie e hieß — »Kasachen, Usbeken und Uiguren« erhoben. Der Lebensmittelman
ge wurde auf Requisitionen zurückgeführt, deren Ertrag die Hungersnot ii den Yangzi-Provinzen, eine Folge der VolkskommunenPolitik und de. »Großen Sprungs«, sollten lindern. Die anfangs, im April und Mai, nocl
friedlichen Demonstrationen wurden im Juni radikalisiert, nachdem da~ Vorgehen der chinesischen Streitkräfte gegen rund 300 Turkestaner, die in dei Ili-Region die Erlaubnis zur Auswanderung in die Sowjetunion erbeten
hatten, ein Dutzend Todesopfer gefordert hatte. Aufständische belagerten daraufhin das zu dieser Zeit noch bestehende sowjetische Konsulat in Kuldscha (Yining) und verlangten Unterstützung für die Errichtung eines
unabhängigen Staates; der sowjetische Konsul rief hingegen zur Loyalität zum chinesischen Staat auf. Es wurde angeblich auch um sowjetische Waffenhilfe gebeten. Dieser Vorfall gab den chinesischen Behörden das Argument
an die Hand, die noch immer bestehenden sowjetischen Konsulate in Hami, Kaschgar, Altai, Kuldscha und Tacheng sowie Ürümqi (Generalkonsulat) nun umgehend zu schließen. Von den Aufständischen wechselten mindestens 50.000
über die Grenze in die Sowjetunion über. Dennoch breitete sich der Aufstand bis in die Ölgebiete von Dushanzi (unweit der chinesischen Muster-stadt Shihezi) und Karamai aus, deren Produktion zum Erliegen kam; im Laufe
des Jahres wurden, offenbar wegen Streiks, 5.000 der 15.000 Ölarbeiter entlassen, was einen Produktionsrückgang um wenigstens 25% bewirkte. Bahnlinien wurden gesprengt und chinesische Militäreinheiten überfallen. Die
chinesische Armee schlug den Aufstand bis September 1962 mit massivem Waffeneinsatz nieder und richtete Konzentrationslager für gefangene »Rebellen« ein, die bezichtigt wurden, dem »sowjetrevisionistisch~~
Imperialismus« verfallen zu sein. Bis zum Herbst flackerte der bewaffnete Widerstand auch im Altai-Gebiet und, wie aus einer Polemik gegen die AufwiegeLung der tatarischen, tadschikischen und kirgischen Minderheiten
hervorleht, offenbar auch südlich von Kaschgar und im tibetisch-xinjianger Grenzlebiet wieder auf. Es wurde sogar gemutmaßt, daß das Ausmaß der Unruhen die chinesische Armee zum überraschenden Rückzug aus den im
Grenzkrieg gegen Indien im Lauf des Sommers 1962 besetzten Gebieten gezwungen habe. Peking reagierte danach aber auch mit der Erhöhung der Nahrungsmittelrationen und Lockerungen in der Familienplanung für die Nicht-Han.
Im Verlauf der politischen Spannungen zwischen China und der Sowjetunion bezichtigte die Pekinger Propaganda 1963 die sowjetische Seite, mehrere zehntausend chinesische Bürger zum Übertritt über die Grenze
gezwungen zu haben, und verlangte die Repatriierung.. |