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Osttürkistan

( Xinjiang )

Historische Entwicklung

Xinjiang im »Großen Spiel«

Unterdessen strebte aber auch Rußland nach der Herrschaft über Xinjiang, nachdem es die entscheidenden Teile des westlichen Turkestan allmählich unter seine Kontrolle gebracht hatte. Schon um 1850 sicherte sich der Petersburger Hof Handelsrechte in Ost-Turkestan. 1851 wurde in Kuldscha ein erstes russisches Konsulat eröffnet, 1866 ein weiteres in Kaschgar. Die letztere Stadt spielte im Petersburger Kalkül eine besondere Rolle. Überlegungen, die Gründung eines Kaschgarer Khanats zu ermutigen und dieses unter russische Kontrolle zu bringen, datieren vom Jahre 1856. Zahlreiche russische Forscher und Händler, deren erste Aufgabe allerdings darin bestand, die politischen und militärischen Verhältnisse genau zu erkunden, begannen bald mit der »Erschließung« des Landes. Der Sohn des letzten Khans der Orta Dschus, der im zentralen Kasachstan nomadisierenden »Mittleren Horde«, spielte dabei eine erste Hauptrolle. Die Orta Dschus hatte sich 1822 unter russischen Schutz gestellt und war danach faktisch annektiert worden; Sultan Tschingis Wali Khan genoß eine russische Militärausbildung. Sein Sohn Tschokan Walikhanow (1835 — 1865) war als erster russischer Kundschafter ausersehen und erledigte, getarnt als Handelsmann in einer größeren Karawane, diesen Auftrag 1858 und 1859 SO erfolgreich, daß er mit einem hohen russischen Orden dekoriert wurde. Er erkundete insbesondere den Aufmarschweg nach Kuldscha, das dann auch zwölf Jahre später für einige Zeit (1871—1882) von Rußland besetzt wurde (»Ili-Dreieck«). Daß sich die russische Herrschaft nicht halten konnte, lag unter anderem an der britischen Diplomatie. London war an einer russischen Herrschaft über Zentral-asien, die sich hier vorzubereiten schien, nicht interessiert. Doch in der kurzen Herrschaftszeit, und als Kompensation für den Rückzug, sicherte sich Petersburg erhebliche Handelsvorteile in ganz Dsungarien. Bestrebungen des Eroberers und späteren Generalgouverneurs von (West-)Turkestan, General Konstantin von Kaufmann, ganz Dsungarien für Rußland zu erobern, wurden wiederum wegen des britischen Gegendrucks nicht weiter verfolgt.

Die Forschungsreisen so berühmter Geographen wie Prschewalskij wurden von den europäische Zeitgenossen ebenso wie die von Nichtrussen, die aber über Rußland einreisten (Sven Hedin), stets unter dem Argwohn betrachtet, daß sie wiederum auch Spionageaufträge für Petersburg erfüllen könnten. Jedoch hatte Rußland spätestens nach der Festlegung der Grenzen des Pufferstaats Afghanistan (1894) und der Niederlage im Russisch-japanischen Krieg (1905) nicht die Kraft zu weiterer Expansion.

Andererseits hatte sich auch Großbritannien frühzeitig an dem »Rennen nach Kaschgar« beteiligt. Jarkand und Kaschgar wurden von dem britischen Reisenden George Hayward als erstem Europäer vom Hunza-Tal aus erreicht; er war dem ins Indus-Tal führenden Zweig der alten Seidenstraße gefolgt. Ihm folgten zahlreiche aus Indien stammende, als Pilger verkleidete monshees, die weite Teile des gegenwärtigen Xinjiang mit einfachen Mitteln kartographisch erfaßten und so der britisch-indischen Regierung wertvolles Material verschafften. Auch aus den Forschungen des aus Budapest stammenden, später zum Briten gewordenen Markusz Aureliusz (Sir Aurel) Stein und anderer, in erster Linie an der Wiederentdeckung der
kulturgeschichtlichen Zusammenhänge interessierter, Reisender zog Großbritannien Erkenntnisse. Die Forschungsreisen, die gewiß anfangs imperialen Zielen gedient hatten, waren entscheidend für die Aufhellung der geographischen Verhältnisse und der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge der gesamten Region, um deren Untersuchung sich die chinesischen Würdenträger so gut wie nicht kümmerten. 1895 konnte Großbritannien dann in Kaschgar nach Rußland ebenfalls ein Konsulat einrichten, das 28 Jahre lang von Sir George Macartney geleitet wurde.

Den Hintergrund des machtpolitischen Strebens nach Zentralasien faßte 1904 zuerst Sir Halford Mackinder (»The Geographical Pivot of History«) theoretisch zusammen. Nach seinen Überlegungen, die am Anfang der Geopolitik als wissenschaftlicher Disziplin (und später Ideologie) stehen, ist Mittelasien die Drehscheibe oder das »Herzland«, dessen Kontrolle die Weltherrschaft sichere. Zu diesem »Herzland« rechnete er Afghanistan, Nord-iran, Turkestan, Tibet und die Mongolei. Hier liege der Schlüssel zur Herrschaft über Eurasien und damit zur Weltherrschaft. Dem imperialen Denken des vergangenen Jahrhunderts entspricht diese Theorie durchaus, die Territorien und Völker lediglich als Objekt des politischen Willens von Großmächten begreift. Dem tatsächlichen Streben Rußlands und Großbritanniens, der beiden imperialistischen Rivalen in Asien, lag indes — andere Spielart geopolitischen Denkens — das Trachten nach »sicheren Grenzen« und Aussperrung des jeweils anderen aus dem eigenen »Interessengebiet« sowie, möglicherweise noch mehr, die Sicherung von Ausgangspositionen für eine zukünftige Aufteilung Chinas, des letzten noch nicht kolonisierten nichteuropäischen Großreichs, zugrunde. Angesichts der faktischen Unmöglichkeit, China ähnlich wie Amerika, Afrika oder Indien kolonial aufzuteilen (was schon wegen der »open door«-Politik der USA, die damit eigene Ansprüche artikulierten, scheitern mußte), war schließlich ein Kompromiß möglich, der China als einer insgesamt abhängig gewordenen und kapitalistisch zu durchdringenden Macht mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit die Herrschaft über Xinjiang (und Tibet) beließ. Die Bewohner der Regionen wurden dabei nicht befragt, sondern als Objekt des jeweils eigenen imperialen Handelns betrachtet.


© Uygur.Org  16/07/00 05:18:42  Ötüken